Der 1926 in Gütersloh geborene Hans Werner Henze (*01.07.1926, +27.10.2012) gilt als einer der wichtigsten deutschen Komponisten der Moderne. Sein umfangreiches Schaffen umfasst sowohl Konzertstücke als auch Musiktheater, Opern und Filmmusiken. Schon in jungen Jahren kam Henze mit der Neuen Musik in Berührung, lehnte jedoch die dogmatische Haltung vieler Vertreter dieser Schule ab und wandte sich zunehmend traditionellen, klassischen Formen zu. Auch die Musik für DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM zeugt von Kontrasten und Vielseitigkeit. Genauso wie Henze sich zeitlebens nicht auf eine bestimmte musikalische Schule festlegen ließ, so weist auch die Musik zu diesem Schlöndorff-Film verschiedene Strömungen auf. Hier finden sich klassische, symphonische Stücke neben atonalen Klangkonstruktionen, die maßgeblich zu der unterschwellig-bedrohlichen Stimmung des Filmes beitragen.
Die akustische Kulisse des Films setzt sich aus Musik auf diegetischer Ebene (Musik, deren Quelle im Bild zu sehen ist und auch für die Figuren im Film zu hören ist) und Musik auf extra-diegetischer Ebene (Musik, die nur für den Zuschauer zu hören ist) zusammen.
Hauptmotive
Auf extra-diegetischer Ebene werden zwei Hauptmotive eingesetzt und im Verlauf des Films in verschiedener Instrumentierung immer wieder aufgegriffen.
Liebesmotiv
Ein Hauptmotiv, nachfolgend Liebesmotiv genannt, gespielt von Violinen und Flöten, steht für die Liebe von Katharina Blum und Ludwig Götten. Diese Musik erklingt immer dann, wenn Katharina an Ludwig denkt oder es zu einem Kontakt zwischen Katharina und Götten kommt. Henze setzt hier stark expressive Filmmusik ein, deren Funktion es ist, dem Zuschauer das Gefühlsleben von Katharina und Ludwig zu vermitteln. Ebenso wie die Gefühle von Katharina, zeichnet sich das Liebesmotiv durch eine eindringliche Zartheit sowie Verletzlichkeit aus. Gerade im Kontrast mit der übrigen, lauten und aufdringlichen Musik wirkt das Liebesmotiv wie aus einer anderen Welt oder einem Traum: die Musik symbolisiert eine Liebe, die in der Realität keinen Platz hat. Besonders wird dies in der Gefängnisszene ersichtlich. Katharina sitzt hier eingesperrt in einer dunklen Zelle. Unsicher, ob und wann sie Ludwig wiedersehen wird. Das aus ihrer Tasche fallende Konfetti lässt sie an ihre erste Begegnung mit Ludwig denken. Es erklingt das Liebesmotiv und versetzt den Zuschauer zurück auf die Karnevalsparty und dem ersten Tanz von Katharina und Ludwig.
Auch erklingt das Liebesmotiv durchgehend sehr leise und wird immer wieder schlagartig durch einen Szenenwechsel abgebrochen – ebenso, wie für die Liebe des Paares keine Hoffnung besteht, wird auch dem Liebesmotiv kein großer Raum zugestanden. Das Liebesmotiv wirkt immer dann besonders eindringlich, wenn es direkt als Kontrast auf das zweite Hauptmotiv, nachfolgend Bedrohungsmotiv genannt, erklingt. Dies wird besonders deutlich während des Aufmarschs der Polizei vor Katharinas Wohnung. In dieser Einstellung wird die anrückende Staatsmacht gezeigt, dazu erklingt das Bedrohungsmotiv. Ein Schwenk der Kamera in Katharinas Wohnung wird begleitet von dem kurzen Erklingen des Liebesmotives: Katharina ahnt noch nichts von der drohenden Gefahr und ist in ihren Gedanken ganz bei Ludwig und der gemeinsamen Nacht.
Bedrohungsmotiv
Das Bedrohungsmotiv, als zweites wichtiges musikalisches Element, erklingt immer dann, wenn für Katharina eine akute Bedrohung seitens der Staatsgewalt besteht oder im Bild die Sondereinsatzkräfte der Polizei auftauchen. Das Bedrohungsmotiv ist hier ein klassisches Leitmotiv für die Vertreter der Staatsmacht. Es erklingt aber auch dann, wenn auf eine Bedrohung allgemein hingewiesen wird. Die Musik ist dabei, im Gegensatz zur Struktur des Liebesmotivs, atonal. Es erklingen kurze, abgebrochene Fragmente, gespielt von sehr hohen Violinen, Trompeten und Flöten. Die kurzen, immer wieder abbrechenden Stücke haben eine beunruhigende Wirkung und irritieren durch ihre Strukturlosigkeit. Ebenso wie Katharina der Willkür von Polizei und Presse ausgesetzt ist, wird hier die Musik willkürlich gespielt und ohne jegliche Entwicklung oder harmonische Struktur.
Auch ist die Funktion des Bedrohungsmotivs eine andere als die des Liebesmotivs. Die Musik wird nicht eingesetzt, um die Stimmung der Figuren zu verdeutlichen, sondern um beim Publikum eine Beklemmung zu erzeugen. Es handelt sich also um sensorische Filmmusik.
Musik auf diegetischer Ebene
Die Musik auf diegetischer Ebene, die ausschließlich aus Karnevalsliedern besteht, wird eingesetzt, um den allgegenwärtigen Terror, dem Katharina ausgesetzt ist, zu vermitteln. Wo auch immer Katharina hingeht, wird sie von lärmenden Karnevalsklängen umgeben. Katharina kann diesen Klängen außerhalb ihrer Wohnung genauso wenig entkommen wie innerhalb der Telefonanrufe und der Lektüre der Drohbriefe. Gerade diese gezielt eingesetzte Partymusik ist es, die dem Zuschauer ein Gefühl der Bedrängung und Verfolgung vermitteln. Die Karnevalsmusik symbolisiert somit den Terror, dem Katharina ausgesetzt ist.
Schlöndorff und Musik
DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM macht besonders ersichtlich, welchen Stellenwert Schlöndorff der Filmmusik beimisst. Im Gegensatz zum Vorgehen vieler Regisseure, den Komponisten erst nach Fertigstellung des Drehbuchs hinzuzuziehen, arbeitete Schlöndorff von Beginn an eng mit Henze zusammen und gewährte diesem sogar Mitspracherecht bei den Dreharbeiten. Auf Henzes Hinweis hin, dass für die Musik eine Wiedervereinigungsszene von Ludwig und Katharina im Gefängnis günstig sei, fügte Schlöndorff eine solche Szene hinzu. Der Film weist somit den Aufbau eines musikalischen Rondos auf: Er beginnt und endet mit einer Begegnung der beiden Liebenden.
Quellen:
Schneider, Norbert Jürgen (1990). Handbuch Filmmusik I. Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film. München: Verlag Ölschläger.
Horton, Andrew (1981). Modern European Filmmakers and the art of adaption. New York: Ungar.
http://www.volkerschloendorff.com/personen/hans-werner-henze/ (12.3.2014)