Neben der Musik für DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (1975) und EINE LIEBE VON SWANN (1983/84) komponierte Hans Werner Henze auch die Begleitung für das Erstlingswerk Schlöndorffs, DER JUNGE TÖRLESS (1966). Schlöndorff, der während der Dreharbeiten Komponisten wie Béla Bartók und Antonín Dvořák hörte, schwebte in diesem Sinne auch eine ähnliche, melancholische Musik für den TÖRLESS vor. Von Produzent Franz Seitz wurde ihm schließlich Opernkomponist Henze empfohlen, der mit einer ungewöhnlichen Idee für die Instrumentation aufwartete.
Instrumentarium
Im Gegensatz zu der häufig symphonischen Besetzung von Filmmusikorchestern schlug Henze ein außergewöhnliches Instrumentarium, bestehend aus mittelalterlichen Instrumenten wie Gamben, Drehleiern, Holzflöten und Bratschen, vor. Diese Instrumente verfügen noch nicht über die Möglichkeit des Vibratos oder sonstiger virtuoser Effekte: das Resultat ist eine recht einfache, schnörkellose Musik. Zweck der Verwendung dieser „einfachen“ Instrumente war es, Henze zufolge, die „Charaktere der Zöglinge“, deren Wesenszüge noch „unfertig“ erscheinen, zu reflektieren (http://www.volkerschloendorff.com/personen/hans-werner-henze/).
Struktur und Aufbau der musikalischen Begleitung
Die Andersartigkeit der musikalischen Begleitung des TÖRLESS fand auch ihren Ausdruck in der Struktur der Komposition. Dies erreichte Henze, indem er mehrere kurze musikalische Elemente komponierte, die jedoch zusammengefügt ein einziges Stück ergeben: Die letzte Note der ersten musikalischen Sequenz knüpft direkt an die erste Note der zweiten musikalischen Sequenz an. Später veröffentlichte Henze die Komposition als Konzertsuite unter dem Namen „Fantasia für Streichsextette“.
Funktion und Wirkung der Musik
Grundsätzlich ist zu sagen, dass die musikalische Begleitung des Films an die Figur des Törless gebunden ist, und nicht etwa die Gefühlswelt von Basini, dem Opfer, ausdrückt. So wird eine zu starke emotionale Involviertheit des Zuschauers mit Basini verhindert. Musik erklingt immer erst, nachdem Törless einer der Taten der Gruppe beigewohnt hat – ebenso wie Törless im Nachhinein über das Geschehene nachdenkt, stellt auch die Musik eine distanzierte Reflexion der Handlung dar. Während der Taten selbst wird auf Musikeinsatz verzichtet. Sie bleibt stumm, und korrespondiert so mit Törless‘ Passivität.
Dadurch, dass weder traurige noch bedrohliche Klänge, sondern recht kühle Töne zu vernehmen sind, spiegelt das Klangbild Törless‘ distanzierte, neutrale Haltung und seine Unfähigkeit, Position zu beziehen, wider. Ebenso wie Törless ist auch die Musik durchgängig „beobachtend“ und wird weder zur emotionalen Lenkung der Zuschauer eingesetzt, noch verdeutlicht sie die Gefühle der Protagonisten.
Nicht zuletzt durch die kühle Klangfarbe ist eine emotionale Verbindung zu den Protagonisten nur schwer möglich. Der für Zuhörer der jetzigen und auch damaligen Zeit fremdartige Klang der mittelalterlichen Instrumente verstärkt das Gefühl in eine andere, nicht ganz zugängliche Welt einzutauchen. Da auch keine klare leitmotivische Melodieführung vorliegt, die es erlauben würde sich in die verschiedenen Rollen einzufühlen, sondern nur kurze, zuweilen unharmonisch klingende Fragmente, lässt sich der Musik genauso wenig folgen wie den Gefühls- und Gedankenwelten der Protagonisten.
Insgesamt lässt sich über die Filmusik des TÖRLESS festhalten, dass Musik hier bewusst eingesetzt wird, um ein Gefühl der Entfremdung zu suggerieren und nicht, wie sonst gängig, darauf ausgerichtet ist, dem Zuschauer die Handlungen, Gefühle und Motive der Protagonisten näher zu bringen und verständlich zu machen.